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DGTD Tagung 2018 – Aus vielen Ichs ein Selbst? Trauma, Dissoziation und Identität

Tagung der Deutschen Gesellschaft Trauma & Dissoziation (DGTD), 14.-15.09.2018

Materialien

Auf der Webseite des Auditorium Netwerk können Aufnahmen der Vorträge gekauft werden. 

Vortragsfolien und Workshopmaterialien, sowie Fotos finden Sie hier

Ein Tagunsband mit Beiträgen der Vortragenden und Workshop-Leitenden soll in absehbarer Zeit beim Junfermann-Verlag erscheinen

Grußwort von Dr. Brigitte Bosse

Viele Interessierte sind nach Mainz gekommen, um sich gemeinsam damit zu beschäftigen, ob und wie aus vielen Ichs ein Selbst werden kann  –   wie verschiedene und voneinander getrennte Anteile in eine Gesamtheit integriert werden können.

Integration ist schwierig. Dabei geht es darum zu klären, was und wer noch dazugehört und was und wer nicht. Und was ich mit denen tue, die dazugehören, die ich aber nicht mag.

Manchmal ist es leichter, verschiedene Ebenen eines Konfliktes, aber womöglich auch Lösungsstrategien anhand einer Metapher zu beleuchten.

Ich möchte Ihnen aus diesem Grund die Geschichte einer recht bekannten und schwer traumatisierten Frau erzählen, die Geschichte Europas. Europa ist zweifellos vielfältig und vielseitig, nicht ganz frei von Kummer und Problemen.

Wir sehen sie auf dem Fünfmarkschein der Deutschen Bundesrepublik. Sie wird vom Stier davongetragen. Wollte sie das wirklich? Vielleicht gab es auch in ihr unterschiedliche Anteile? Ursprünglich kam sie aus Griechenland, war es eine freiwillige Migration? Wo ist sie heute zuhause?

Was ist der Kern Europas? Ist Europa eine Idee? Eine Wirtschaftsgemeinschaft? Eine geographische Einheit? Eine Staatengemeinschaft? Eine Rechtspersönlichkeit? Das, was wir heute als EU kennen, trat zunächst in Erscheinung als eine wirtschaftliche Gemeinschaft von lediglich sechs Staaten, heute gehören 28 Staaten dazu. Und es bleiben noch etliche andere übrig, die zwar zu Europa gehören, von der EU jedoch ausgeschlossen sind.

Also wer gehört zu Europa und was bedeutet das? Sind es die Staaten oder sind es die Menschen? Welche Menschen und welche Ideen gehören zu Europa? Gehört der Islam zu Europa? Gehört Viktor Orban zu Europa? Und die Queen? Gehört sie nach dem Brexit nicht mehr zu Europa  –  ist das Gefühl der Zugehörigkeit dann weg?

Frau Europa wurde oft und heftig traumatisiert, nicht nur durch die beiden Weltkriege, auch in späteren Umbruchsphasen. Fast möchte man sagen, sie verdanke ihr Entstehen mannigfaltigen Gewaltakten –  und Versöhnungsversuchen – bis hin zu einem Kniefall vor unermeßlichem Leid, der Anerkennung von Schuld und Versäumnis.

Und klar: Europa hat Grenzen. Grenzen im Inneren und Grenzen nach außen. Wirtschaftliche Grenzen und Grenzen der Machbarkeit, auch Grenzen der Belastbarkeit.

Wie viele Frauen ist auch Europa nicht ganz zufrieden mit ihrer äußeren Gestalt. Kurvenkorrektur – Grenzkorrekturen werden gefordert. Aber was ist der Preis zur Wahrung der inneren wie der äußeren Grenzen? Es gibt Kräfte in ihrem Inneren, die auf aggressive Verteidigung dieser Grenzen setzen. Sie wollen den Austausch im Inneren gering halten und sich gegen äußere Einflüsse abschotten. Sie sehen sich bedroht von der Andersartigkeit.

In dem sie jedoch Grenzen verteidigen und sichern, verletzen sie ihrerseits Grenzen, Regeln und auch Menschen. Das geschieht in der Gewissheit, Gutes und Richtiges zu tun. Die Angst vor Veränderung ist so unaushaltbar, dass Autodestruktion die bessere Alternative zu sein scheint.

Diese Kräfte zu ignorieren, ist keine Lösung. Sie rauszuschmeißen, ist nicht möglich. Aber kann und will man sie integrieren? Und wie soll das gehen?

Europa kann nicht bestehen ohne die Kooperation im Inneren und nach außen. Aber wie weit kann und muss diese Kooperation gehen? Griechenland und Deutschland gehören zu Europa. Muss Deutschland sich der griechischen Schulden annehmen? Welche Formen des Ausgleichs und der Unterstützung braucht es? Können einzelne die erforderliche Unterstützung leisten – können andere diese Unterstützung annehmen? Und wie handelt man das aus?

Die Diagnose ist klar: Europa ist vielfältig und schwerst traumatisiert. Es handelt sich um ein Gesamtsystem mit vielen Ichs und Identitäten  –   nicht alle davon sind sympathisch.

Wie in unserer therapeutischen Arbeit kommen wir nur weiter mit Ausdauer, Vorsicht und bedingungsloser Akzeptanz dessen, was da ist. Wir müssen mit allen reden, wir müssen sie kennenlernen und kennenlernen wollen. Das gilt auch da, wo das Bedürfnis nach Kontakt und Kennenlernen auf der anderen – oder auch auf der eigenen – Seite überschaubar ist.

Was wäre das Ziel der Therapie? Gegen Einheit und Fusionieren gibt es berechtigte Einwände. Ein Selbst wie die Vereinigten Staaten von Europa wäre ein wackliges Konstrukt. Brauchen wir ein Selbst? Können wir mit einem „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ leben? Einige Anteile, die schon nahezu fusionieren? Andere, die eigenständiger bleiben, aber auf aktiven Widerstand verzichten? Alles unter einem gemeinsamen Dach.

Frau Europa steht beispielhaft für Vieles und Viele.

Dabei geht es mir nicht nur um die Frage, wie ein Selbst entstehen kann, sondern auch, warum es entstehen soll. Integration hat ihren Preis – und das Gesamtsystem muss wissen, warum es sich lohnt.

Beim Nachdenken über Europa, die Vielfalt, die Identitäten, das Ich und das Selbst und über die verschiedenen Formen der Integration, bin ich zu dem Begriff der Gesamtheit gelangt. Das wären Alle, die unter einem Dach, in einem Körper leben. Sie müssten sich nicht einmal alle mögen, aber akzeptieren, respektieren und kooperieren

Vielleicht muss es nicht bei allen ein „Selbst“ werden. Vielleicht darf Vielfalt bleiben. 

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