I. Interdisziplinäre Trauma-Fachtagung – „Das hat mir die Sprache verschlagen“ (2012 in Mainz)
Tagungsbericht
Am Montag, den 5.März 2012, fand im Erbacher Hof in Mainz die erste Interdisziplinäre Traumafachtagung statt. Die Tagung war ein voller Erfolg. Über 300 interessierte Teilnehmende aus unterschiedlichen Bereichen kamen, um die Vorträge von Professor Gerald Hüther (Neurobiologie), Frau Michaela Huber (Psychologische Psychotherapeutie), Professor Ludwig Salgo (Rechtswissenschaft) und Frau Barbara Wüsten (Rechtsanwältin) zu hören. Ziel der Tagung war es, ein interdisziplinäres Verständnis von Traumatisierung und Traumafolgestörungen zu entwickeln.
„Die Idee des Interdisziplinären ist großartig. Hervorragende Tagung!“
Die Grußworte sprachen Herr Kardinal Lehmann und Herr Justizminister Jochen Hartloff, die gleich zu Beginn auf die Notwendigkeit des interdisziplinären Austauschs sowie die öffentliche und politische Relevanz der Thematik hinwiesen.
Die Tagung begann mit der neurobiologischen Darstellung eines Traumas. Herr Professor Hüther beantwortete die Fragen: Was müssen wir über das Gehirn wissen, um zu verstehen, was ein Trauma ist? Was passiert bei einem Trauma im Gehirn? Welche organischen Schädigungen entstehen? Ein traumatisches Ereignis ist dabei, ganz allgemein, jedes Erlebnis, dass die Verarbeitungskapazität einer Person überfordert.
Auf dieser Grundlage zeigte Frau Michaela Huber im Anschluss, was das real im Leben der Opfer bedeutete. Ihr Vortrag begann mit einer historischen Darstellung und der Erläuterung der Begriffe Trauma und Dissoziation. Sie machte deutlich, wie Dissoziative Identitätsstörungen entstehen, und welche Folgen das für Opfer, TherapeutInnen und die Staatsanwaltschaft hat.
„Die Tagung hat mein Bewusstsein für traumatische Verletzungen geschärft“
Der Vortrag von Herrn Professor Salgo war ein starkes Plädoyer dafür, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Anhand des Beispiels häuslicher Gewalt zeigte er, welche Folgen ein gewalttätiges Umfeld für die Entwicklung der Kinder hat. Er stellte die Rechtslage dar und kritisierte, dass der Schutz des Kindeswohls zwar stark verankert sei, in der Realität jedoch nicht immer im Mittelpunkt stehe. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Vorträge wurde die Brisanz nochmal deutlicher: Traumatisierung hinterlässt eine langanhaltende Schädigung im Gehirn mit unter Umständen starken Auswirkungen für den Alltag der Opfer. Und sie entsteht nicht nur, wenn Opfer selbst Gewalt erfahren, sondern auch dann, wenn sie Zeugen von Gewalt werden.
Der letzte Tagungsbeitrag zeigte Möglichkeiten auf, Opfer zu unterstützen und ihnen im Nachhinein Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ein wichtiges rechtliches Element ist dafür das Opferentschädigungsgesetz, das Frau Wüsten in seinen Eckpunkten vorstellte.
„Es waren hervorragende ReferentInnen. Endlich auch Frauen auf dem Podium!“
Den Abschluss der Tagung bildete eine gemeinsame Reflexion darüber, welche gemeinsamen Anstrengungen unternommen werden können, um Opfer die Sprache zurückzugeben und sie zu unterstützen. Herausgestellt wurden hier insbesondere die Bedeutung von Prävention und eine bessere Kooperation und Weiterbildung von TherapeutInnen und JuristInnen.
Grußworte
Grußwort Karl Kardinal Lehmann
Die letzten Jahre waren in vielen Bereichen unserer Gesellschaft regelrecht durch die Entdeckung von gewalttätigen Verhältnissen gegenüber Kindern und Jugendlichen geprägt. Freilich gab es auch Gewalt in anderer Hinsicht. Es gab auch viel Gewaltanwendung unter den Jugendlichen selbst und nicht zuletzt auch gegenüber Mädchen und Frauen.
In der Zwischenzeit ist sicher vieles geschehen, um mehr Sensibilität zu wecken für das Thema, für die Opfer, für Fragen einer „Entschädigung“, aber auch in Richtung einer sehr umfassenden und weitgehenden Prävention. Unsere Kirche stand unter besonderer Beachtung der Öffentlichkeit. Dies galt nicht nur in unserem Land, sondern durch die Missbrauchsereignisse – vor allem auch von Priestern und Ordensangehörigen – in nicht wenigen Ländern. Der Papst selbst hat sich, besonders auch bei den Besuchen, immer wieder mit sehr klaren Worten gegen diese Verbrechen gewandt, und hat auch ganz bewusst, freilich ohne Öffentlichkeit, bei seinem Deutschlandbesuch im vergangenen Herbst eine Begegnung gehabt mit Missbrauchsopfern. Dies ist vergleichsweise in vielen Bistümern bei uns ähnlich geschehen. Wir haben früher schon eigene Missbrauchsbeauftragte eingesetzt, die hauptsächlich als Ansprechpartner gedacht sind. Sie sind in den allermeisten Bistümern unabhängig von der Bistumsleitung.
Wir haben bereits im Jahr 2002 „Leitlinien mit Erläuterungen zum Vorgehen bei Sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch ‚Geistliche’ im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ veröffentlicht (26. September 2002). Wir haben gleichzeitig neben einem internationalen Kongress im Vatikan Kontakt aufgenommen mit einer Reihe forensischer Psychiater in unserem Land, die auch zu einer gutachtlichen Tätigkeit bereit sind. Davon ist reichlich Gebrauch gemacht worden. Aufgrund dieser Erfahrungen haben wir auch die eben genannten Richtlinien im Jahr 2010 überarbeitet („Leitlinien für den Umgang mit Sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“, 10. September 2010, vgl. die Kirchlichen Amtsblätter). Man hat uns auch in vieler Hinsicht bescheinigt, dass wohl kaum eine andere gesellschaftliche Großgruppe so grundlegend die Sache angepackt hat. Auf die schwierige Frage der finanziellen Entschädigung brauche ich hier nicht näher einzugehen, zumal auch der Runde Tisch unter der Leitung der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Dr. Bergmann allgemeine Vorschläge gemacht hat.
Ganz gewiss spielte von Anfang an die Wiedergutmachung und Gerechtigkeit für die Opfer eine entscheidende Rolle. Dies gilt für die Erkenntnis der Folgen des Missbrauchs in menschlicher und religiöser Hinsicht, für das Gespräch mit den Opfern und besonders auch für die Hilfen. In der Zwischenzeit, also seit 2002, ist uns der Blick auf die Opfer noch wichtiger geworden, wie aus der Neufassung der Richtlinien aus dem Jahre 2010 hervorgeht. In dieser Zeit ist die Sensibilität für die Opfer von Gewalt auch in anderen Kontexten größer geworden, sodass auch hier netzartig ein tieferes Bewusstsein der Verantwortung gewachsen ist (vgl. dafür z. B die Theologie von Prof. Dr. J. B. Metz). „Die Opfer werden in ihrer Entwicklung schwer geschädigt, bei ihnen und bei ihren Angehörigen wird großes Leid ausgelöst. Wenn ein Geistlicher sich an einem Kind oder Jugendlichen vergeht, verdunkelt er auch die christliche Botschaft und die Glaubwürdigkeit der Kirche und fügt der kirchlichen Gemeinschaft schweren Schaden zu.“ (Leitlinien 2010).
Wir sind uns bewusst, dass wir hier trotz aller Bemühungen am Anfang eines Neuanfangs stehen. Wir haben immer mehr die besonderen Schädigungen bei Kindern und Jugendlichen bis in das hohe Alter hinein festgestellt. Es war unverkennbar, dass viele Opfer für ein Leben lang geschädigt waren, besonders auch im Blick auf die Beziehungen, vor allem zum anderen Geschlecht sowie in Ehe und Familie. Manchmal konnten wir kaum begreifen, warum die Wunden so tief geschlagen wurden und warum sie so wenig heilen. Es ist davon ein heilsamer Schrecken ausgegangen. Insofern hat sich wirklich im Verhalten einiges geändert. Freilich müssen wir immer wieder auch mit der Aufdeckung von Vergehen rechnen.
Aber ich bin mir gewiss, dass es noch Aufgaben gibt, die wir noch nicht in Angriff genommen haben. Dazu gehört das Thema dieser Trauma-Fachtagung: Gewalt macht sprachlos. Die Gewalt hinterlässt Spuren im Gehirn. Viele Opfer sind nicht in der Lage, medizinische oder juristische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Bindung an die Täter ist sehr schwer zu lösen. Erst die Kenntnis dieser Strukturen macht uns manches verständlich. Darum ist es notwendig, dass wir über Fachgrenzen hinaus Kenntnisse über juristische, neurophysiologische und psychotraumatologische Aspekte von Gewalterfahrungen erhalten und vor allem auch mit Hilfe von Experten vertiefen.
Deshalb sind wir vom Bistum aus gerne zur Kooperation mit dem Trauma-Institut Mainz unter Leitung von Frau Dr. Brigitte Bosse bereit gewesen und unterstützen diese Fachtagung. Ich freue mich, dass sie in unserer Akademie stattfindet. Ich möchte Ihnen allen, besonders den Vortragenden und Verantwortlichen, sehr herzlich danken und wünsche Ihnen einen guten Verlauf sowie nachhaltigen Erfolg für alle in Ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich. Herzlichen Dank und in Gottes Segen alle guten Wünsche.
Karl Kardinal Lehmann, Mainz den 05.03.2012
Grußwort von Herrn Staatsminister Jochen Hartloff
zur interdisziplinären Traumafachtagung „Das hat mir die Sprache verschlagen“ am 5. März 2012 im Erbacher Hof, Mainz
Eminenz, sehr geehrter Herr Kardinal Lehmann,
sehr geehrte Frau Dr. Bosse,
sehr geehrte Damen und Herren Referenten des heutigen Tages,
sehr geehrte Damen und Herren Rechtsanwälte, Ärzte und Psychologen,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Richterschaft und von den Staatsanwaltschaften,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich möchte Sie hier in Mainz im Erbacher Hof zur interdisziplinären Traumafachtagung ganz herzlich begrüßen.
Sie werden sich heute mit Fragen der Psychotraumatologie befassen. Das ist ein weites Feld, und es ist auch einer der vielfältigen Berührungspunkte, die wir Juristen mit den Medizinern und Psychologen haben. Besonders wichtig ist mir, dass Sie für Ihre Tagung einen interdisziplinären Ansatz gewählt haben. Die gemeinsame Beratung und Diskussion von Fachleuten aus unterschiedlichen Disziplinen und Fachrichtungen und die Einbringung oft ganz unterschiedlicher beruflicher Erfahrungen gewinnt eine immer größere Bedeutung. Gerade für einen sensiblen und verantwortungsvollen Umgang mit traumatisierten Menschen sind nachhaltige Verbesserungen nach meiner Überzeugung nur möglich, wenn wir das Wissen der verschiedenen Disziplinen nutzen und verknüpfen.
Täglich hören wir Nachrichten über Kriege, Terroranschläge, über Gewalt oder Naturkatastrophen – Geschehnisse, die unendliches menschliches Leid hervorrufen und sich tief in die Seelen der Menschen bohren.
Ein Teil unserer Bevölkerung hat zwei Weltkriege, hat Flucht und Vertreibung erlebt und erlitten; und wir wissen von psychotraumatischen Belastungsstörungen bei vielen Menschen, die auch Jahrzehnte nach den Ereignissen noch präsent sind und die seelische Gesundheit der Betroffenen sehr stark belasten. Wir wissen, dass die schlimmen Erinnerungen mitunter auch erst im Alter wieder auftreten und dass die Zeit allein eben nicht die Wunden heilt!
Täglich geschehen Gewaltverbrechen, und täglich gibt es die Katastrophen des täglichen Lebens: Suizid, plötzlicher Kindstod, Herzstillstand, Verkehrsunfall, Wohnungsbrand, Beziehungsdrama u.v.a. mehr. Ein Notruf geht ein: Polizei, Rettungsdienst, Feuerwehr, Notarzt, Notfallseelsorger warden alarmiert.
Ich denke, dass wir hier in Deutschland ein gut funktionierendes, arbeitsteiliges Krisenmanagement haben und professionell Erste Hilfe leisten können. Wie aber geht es nach der Ersten Hilfe weiter?
Sind wir als Juristen, als Rechtsanwälte, als Richter, oder als Staatsanwalt, sind Sie als Mediziner, Psychologe, Polizist, Bewährungshelfer oder Sozialarbeiter gerüstet, mit Opfern extremer Gewalt – seien es Kinder oder Erwachsene – angemessen umzugehen?
Heute werden aus einer multidisziplinären Perspektive heraus hervorragende Referentinnen und Referenten, Expertinnen und Experten über Auswirkungen unterschiedlichster Formen von Gewalt und über den Umgang mit Opfern und Tätern berichten und hoffentlich auch Lösungswege, sei es bei Verdachtsmomenten für eine schwere Traumatisierung, im Umgang mit den Medien oder in Bezug auf juristische Möglichkeiten des Opfer-, Gewalt- oder Zeugenschutzes, aufzeigen.
Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen ganz kurz den langen Weg darstelle, den Justiz und Rechtspolitik zurückgelegt haben, um die Bedeutung des Opferschutzes und insbesondere der Psychotraumatologie gerade für ihre Arbeit zu erkennen.
In den letzten zehn Jahren hat sich erfreulicherweise ein durchgreifender Bewusstseinswandel vollzogen. Früher war der Fokus der Justiz im Wesentlichen auf die Täterpersönlichkeit gerichtet. Die Opfer von Straftaten waren nur als Beweismittel zur Überführung des Täters von Bedeutung. Heute ist anerkannt, dass eine Justiz, die auch ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden will, dafür Sorge tragen muss, dass Opfer von Straftaten als Zeuginnen und Zeugen im Strafverfahren mit ihrer gesamten Persönlichkeit wahrgenommen werden.
Traumatisierte Menschen, die Opfer schwerer Straftaten wie beispielsweise eines sexuellen Missbrauchs oder einer Vergewaltigung geworden sind, brauchen hierbei die Unterstützung von uns allen:
Sie brauchen als rechtlichen Beistand Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die ihre
Rechte als Nebenkläger kompetent und wirkungsvoll wahrnehmen. Sie benötigen Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die die bestehenden Vorschriften zum Schutz von Zeuginnen und Zeugen im Sinne des Opferschutzes anwenden. Auch die beste Nebenklagevertretung oder eine sensible und einfühlsame richterliche Verhandlungsführung reichen bei traumatisierten Opfern bei weitem nicht aus. Nach allen Erfahrungen brauchen gerade sie eine fachkundige sozialpädagogische oder psychosoziale Begleitung und Betreuung während des gesamten Ermittlungs- und Strafverfahrens.
Im Justizministerium wird derzeit der 1. Bericht der im Jahr 2009 eingerichteten und auch interdisziplinär besetzten Arbeitsgruppe „FOKUS: Opferschutz“ ausgewertet. In dem Bericht warden weitere Vorschläge zur Verbesserung des Opferschutzes gemacht, mit deren Umsetzung schon begonnen worden ist. Genannt wird beispielsweise das Instrument der Psychosozialen bzw. Sozialpädagogischen Prozessbegleitung insbesondere für traumatisierte Kinder und Jugendliche, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind. Ich sehe in diesem Bereich ein großes Potenzial, um traumatisierte Zeuginnen und Zeugen „sicher“ durch das Verfahren zu bringen und ihre sekundäre Viktimisierung zu vermeiden. Wichtig ist darüber hinaus auch der weitere Ausbau des Fort- und Weiterbildungsangebots für die in den Beratungsstellen tätigen Fachkräfte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich wünsche Ihnen eine informative und spannende Veranstaltung mit vielen neuen interdisziplinären Erkenntnissen und Kontakten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.