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Trauma Institut Mainz

I. Interdisziplinäre Trauma-Fachtagung – „Das hat mir die Sprache verschlagen“ (2012 in Mainz)

Tagungsbericht

Am Montag, den 5.März 2012, fand im Erbacher Hof in Mainz die erste Interdisziplinäre Traumafachtagung statt. Die Tagung war ein voller Erfolg. Über 300 interessierte Teilnehmende aus unterschiedlichen Bereichen kamen, um die Vorträge von Professor Gerald Hüther (Neurobiologie), Frau Michaela Huber (Psychologische Psychotherapeutie), Professor Ludwig Salgo (Rechtswissenschaft) und Frau Barbara Wüsten (Rechtsanwältin) zu hören. Ziel der Tagung war es, ein interdisziplinäres Verständnis von Traumatisierung und Traumafolgestörungen zu entwickeln.

„Die Idee des Interdisziplinären ist großartig. Hervorragende Tagung!“

Die Grußworte sprachen Herr Kardinal Lehmann und Herr Justizminister Jochen Hartloff, die gleich zu Beginn auf die Notwendigkeit des interdisziplinären Austauschs sowie die öffentliche und politische Relevanz der Thematik hinwiesen.

Die Tagung begann mit der neurobiologischen Darstellung eines Traumas. Herr Professor Hüther beantwortete die Fragen: Was müssen wir über das Gehirn wissen, um zu verstehen, was ein Trauma ist? Was passiert bei einem Trauma im Gehirn? Welche organischen Schädigungen entstehen? Ein traumatisches Ereignis ist dabei, ganz allgemein, jedes Erlebnis, dass die Verarbeitungskapazität einer Person überfordert.

Auf dieser Grundlage zeigte Frau Michaela Huber im Anschluss, was das real im Leben der Opfer bedeutete. Ihr Vortrag begann mit einer historischen Darstellung und der Erläuterung der Begriffe Trauma und Dissoziation. Sie machte deutlich, wie Dissoziative Identitätsstörungen entstehen, und welche Folgen das für Opfer, TherapeutInnen und die Staatsanwaltschaft hat.

„Die Tagung hat mein Bewusstsein für traumatische Verletzungen geschärft“

Der Vortrag von Herrn Professor Salgo war ein starkes Plädoyer dafür, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Anhand des Beispiels häuslicher Gewalt zeigte er, welche Folgen ein gewalttätiges Umfeld für die Entwicklung der Kinder hat. Er stellte die Rechtslage dar und kritisierte, dass der Schutz des Kindeswohls zwar stark verankert sei, in der Realität jedoch nicht immer im Mittelpunkt stehe. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Vorträge wurde die Brisanz nochmal deutlicher: Traumatisierung hinterlässt eine langanhaltende Schädigung im Gehirn mit unter Umständen starken Auswirkungen für den Alltag der Opfer. Und sie entsteht nicht nur, wenn Opfer selbst Gewalt erfahren, sondern auch dann, wenn sie Zeugen von Gewalt werden.

Der letzte Tagungsbeitrag zeigte Möglichkeiten auf, Opfer zu unterstützen und ihnen im Nachhinein Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ein wichtiges rechtliches Element ist dafür das Opferentschädigungsgesetz, das Frau Wüsten in seinen Eckpunkten vorstellte.

„Es waren hervorragende ReferentInnen. Endlich auch Frauen auf dem Podium!“

Den Abschluss der Tagung bildete eine gemeinsame Reflexion darüber, welche gemeinsamen Anstrengungen unternommen werden können, um Opfer die Sprache zurückzugeben und sie zu unterstützen. Herausgestellt wurden hier insbesondere die Bedeutung von Prävention und eine bessere Kooperation und Weiterbildung von TherapeutInnen und JuristInnen.

Grußworte

Grußwort Karl Kardinal Lehmann

Die letzten Jahre waren in vielen Bereichen unserer Gesellschaft regelrecht durch die Entdeckung von gewalttätigen Verhältnissen gegenüber Kindern und Jugendlichen geprägt. Freilich gab es auch Gewalt in anderer Hinsicht. Es gab auch viel Gewaltanwendung unter den Jugendlichen selbst und nicht zuletzt auch gegenüber Mädchen und Frauen.

In der Zwischenzeit ist sicher vieles geschehen, um mehr Sensibilität zu wecken für das Thema, für die Opfer, für Fragen einer „Entschädigung“, aber auch in Richtung einer sehr umfassenden und weitgehenden Prävention. Unsere Kirche stand unter besonderer Beachtung der Öffentlichkeit. Dies galt nicht nur in unserem Land, sondern durch die Missbrauchsereignisse – vor allem auch von Priestern und Ordensangehörigen – in nicht wenigen Ländern. Der Papst selbst hat sich, besonders auch bei den Besuchen, immer wieder mit sehr klaren Worten gegen diese Verbrechen gewandt, und hat auch ganz bewusst, freilich ohne Öffentlichkeit, bei seinem Deutschlandbesuch im vergangenen Herbst eine Begegnung gehabt mit Missbrauchsopfern. Dies ist vergleichsweise in vielen Bistümern bei uns ähnlich geschehen. Wir haben früher schon eigene Missbrauchsbeauftragte eingesetzt, die hauptsächlich als Ansprechpartner gedacht sind. Sie sind in den allermeisten Bistümern unabhängig von der Bistumsleitung.

Wir haben bereits im Jahr 2002 „Leitlinien mit Erläuterungen zum Vorgehen bei Sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch ‚Geistliche’ im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ veröffentlicht (26. September 2002). Wir haben gleichzeitig neben einem internationalen Kongress im Vatikan Kontakt aufgenommen mit einer Reihe forensischer Psychiater in unserem Land, die auch zu einer gutachtlichen Tätigkeit bereit sind. Davon ist reichlich Gebrauch gemacht worden. Aufgrund dieser Erfahrungen haben wir auch die eben genannten Richtlinien im Jahr 2010 überarbeitet („Leitlinien für den Umgang mit Sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“, 10. September 2010, vgl. die Kirchlichen Amtsblätter). Man hat uns auch in vieler Hinsicht bescheinigt, dass wohl kaum eine andere gesellschaftliche Großgruppe so grundlegend die Sache angepackt hat. Auf die schwierige Frage der finanziellen Entschädigung brauche ich hier nicht näher einzugehen, zumal auch der Runde Tisch unter der Leitung der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Dr. Bergmann allgemeine Vorschläge gemacht hat.

Ganz gewiss spielte von Anfang an die Wiedergutmachung und Gerechtigkeit für die Opfer eine entscheidende Rolle. Dies gilt für die Erkenntnis der Folgen des Missbrauchs in menschlicher und religiöser Hinsicht, für das Gespräch mit den Opfern und besonders auch für die Hilfen. In der Zwischenzeit, also seit 2002, ist uns der Blick auf die Opfer noch wichtiger geworden, wie aus der Neufassung der Richtlinien aus dem Jahre 2010 hervorgeht. In dieser Zeit ist die Sensibilität für die Opfer von Gewalt auch in anderen Kontexten größer geworden, sodass auch hier netzartig ein tieferes Bewusstsein der Verantwortung gewachsen ist (vgl. dafür z. B die Theologie von Prof. Dr. J. B. Metz). „Die Opfer werden in ihrer Entwicklung schwer geschädigt, bei ihnen und bei ihren Angehörigen wird großes Leid ausgelöst. Wenn ein Geistlicher sich an einem Kind oder Jugendlichen vergeht, verdunkelt er auch die christliche Botschaft und die Glaubwürdigkeit der Kirche und fügt der kirchlichen Gemeinschaft schweren Schaden zu.“ (Leitlinien 2010).

Wir sind uns bewusst, dass wir hier trotz aller Bemühungen am Anfang eines Neuanfangs stehen. Wir haben immer mehr die besonderen Schädigungen bei Kindern und Jugendlichen bis in das hohe Alter hinein festgestellt. Es war unverkennbar, dass viele Opfer für ein Leben lang geschädigt waren, besonders auch im Blick auf die Beziehungen, vor allem zum anderen Geschlecht sowie in Ehe und Familie. Manchmal konnten wir kaum begreifen, warum die Wunden so tief geschlagen wurden und warum sie so wenig heilen. Es ist davon ein heilsamer Schrecken ausgegangen. Insofern hat sich wirklich im Verhalten einiges geändert. Freilich müssen wir immer wieder auch mit der Aufdeckung von Vergehen rechnen.

Aber ich bin mir gewiss, dass es noch Aufgaben gibt, die wir noch nicht in Angriff genommen haben. Dazu gehört das Thema dieser Trauma-Fachtagung: Gewalt macht sprachlos. Die Gewalt hinterlässt Spuren im Gehirn. Viele Opfer sind nicht in der Lage, medizinische oder juristische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Bindung an die Täter ist sehr schwer zu lösen. Erst die Kenntnis dieser Strukturen macht uns manches verständlich. Darum ist es notwendig, dass wir über Fachgrenzen hinaus Kenntnisse über juristische, neurophysiologische und psychotraumatologische Aspekte von Gewalterfahrungen erhalten und vor allem auch mit Hilfe von Experten vertiefen.

Deshalb sind wir vom Bistum aus gerne zur Kooperation mit dem Trauma-Institut Mainz unter Leitung von Frau Dr. Brigitte Bosse bereit gewesen und unterstützen diese Fachtagung. Ich freue mich, dass sie in unserer Akademie stattfindet. Ich möchte Ihnen allen, besonders den Vortragenden und Verantwortlichen, sehr herzlich danken und wünsche Ihnen einen guten Verlauf sowie nachhaltigen Erfolg für alle in Ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich. Herzlichen Dank und in Gottes Segen alle guten Wünsche.



Karl Kardinal Lehmann, Mainz den 05.03.2012

Grußwort von Herrn Staatsminister Jochen Hartloff

zur interdisziplinären Traumafachtagung „Das hat mir die Sprache verschlagen“ am 5. März 2012 im Erbacher Hof, Mainz

Eminenz, sehr geehrter Herr Kardinal Lehmann,

sehr geehrte Frau Dr. Bosse,

sehr geehrte Damen und Herren Referenten des heutigen Tages,

sehr geehrte Damen und Herren Rechtsanwälte, Ärzte und Psychologen,

sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Richterschaft und von den Staatsanwaltschaften,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich möchte Sie hier in Mainz im Erbacher Hof zur interdisziplinären Traumafachtagung ganz herzlich begrüßen.

Sie werden sich heute mit Fragen der Psychotraumatologie befassen. Das ist ein weites Feld, und es ist auch einer der vielfältigen Berührungspunkte, die wir Juristen mit den Medizinern und Psychologen haben. Besonders wichtig ist mir, dass Sie für Ihre Tagung einen interdisziplinären Ansatz gewählt haben. Die gemeinsame Beratung und Diskussion von Fachleuten aus unterschiedlichen Disziplinen und Fachrichtungen und die Einbringung oft ganz unterschiedlicher beruflicher Erfahrungen gewinnt eine immer größere Bedeutung. Gerade für einen sensiblen und verantwortungsvollen Umgang mit traumatisierten Menschen sind nachhaltige Verbesserungen nach meiner Überzeugung nur möglich, wenn wir das Wissen der verschiedenen Disziplinen nutzen und verknüpfen.

Täglich hören wir Nachrichten über Kriege, Terroranschläge, über Gewalt oder Naturkatastrophen – Geschehnisse, die unendliches menschliches Leid hervorrufen und sich tief in die Seelen der Menschen bohren.

Ein Teil unserer Bevölkerung hat zwei Weltkriege, hat Flucht und Vertreibung erlebt und erlitten; und wir wissen von psychotraumatischen Belastungsstörungen bei vielen Menschen, die auch Jahrzehnte nach den Ereignissen noch präsent sind und die seelische Gesundheit der Betroffenen sehr stark belasten. Wir wissen, dass die schlimmen Erinnerungen mitunter auch erst im Alter wieder auftreten und dass die Zeit allein eben nicht die Wunden heilt!

Täglich geschehen Gewaltverbrechen, und täglich gibt es die Katastrophen des täglichen Lebens: Suizid, plötzlicher Kindstod, Herzstillstand, Verkehrsunfall, Wohnungsbrand, Beziehungsdrama u.v.a. mehr. Ein Notruf geht ein: Polizei, Rettungsdienst, Feuerwehr, Notarzt, Notfallseelsorger warden alarmiert.

Ich denke, dass wir hier in Deutschland ein gut funktionierendes, arbeitsteiliges Krisenmanagement haben und professionell Erste Hilfe leisten können. Wie aber geht es nach der Ersten Hilfe weiter?

Sind wir als Juristen, als Rechtsanwälte, als Richter, oder als Staatsanwalt, sind Sie als Mediziner, Psychologe, Polizist, Bewährungshelfer oder Sozialarbeiter gerüstet, mit Opfern extremer Gewalt – seien es Kinder oder Erwachsene – angemessen umzugehen?

Heute werden aus einer multidisziplinären Perspektive heraus hervorragende Referentinnen und Referenten, Expertinnen und Experten über Auswirkungen unterschiedlichster Formen von Gewalt und über den Umgang mit Opfern und Tätern berichten und hoffentlich auch Lösungswege, sei es bei Verdachtsmomenten für eine schwere Traumatisierung, im Umgang mit den Medien oder in Bezug auf juristische Möglichkeiten des Opfer-, Gewalt- oder Zeugenschutzes, aufzeigen.

Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen ganz kurz den langen Weg darstelle, den Justiz und Rechtspolitik zurückgelegt haben, um die Bedeutung des Opferschutzes und insbesondere der Psychotraumatologie gerade für ihre Arbeit zu erkennen.

In den letzten zehn Jahren hat sich erfreulicherweise ein durchgreifender Bewusstseinswandel vollzogen. Früher war der Fokus der Justiz im Wesentlichen auf die Täterpersönlichkeit gerichtet. Die Opfer von Straftaten waren nur als Beweismittel zur Überführung des Täters von Bedeutung. Heute ist anerkannt, dass eine Justiz, die auch ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden will, dafür Sorge tragen muss, dass Opfer von Straftaten als Zeuginnen und Zeugen im Strafverfahren mit ihrer gesamten Persönlichkeit wahrgenommen werden.

Traumatisierte Menschen, die Opfer schwerer Straftaten wie beispielsweise eines sexuellen Missbrauchs oder einer Vergewaltigung geworden sind, brauchen hierbei die Unterstützung von uns allen:

Sie brauchen als rechtlichen Beistand Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die ihre

Rechte als Nebenkläger kompetent und wirkungsvoll wahrnehmen. Sie benötigen Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die die bestehenden Vorschriften zum Schutz von Zeuginnen und Zeugen im Sinne des Opferschutzes anwenden. Auch die beste Nebenklagevertretung oder eine sensible und einfühlsame richterliche Verhandlungsführung reichen bei traumatisierten Opfern bei weitem nicht aus. Nach allen Erfahrungen brauchen gerade sie eine fachkundige sozialpädagogische oder psychosoziale Begleitung und Betreuung während des gesamten Ermittlungs- und Strafverfahrens.

Im Justizministerium wird derzeit der 1. Bericht der im Jahr 2009 eingerichteten und auch interdisziplinär besetzten Arbeitsgruppe „FOKUS: Opferschutz“ ausgewertet. In dem Bericht warden weitere Vorschläge zur Verbesserung des Opferschutzes gemacht, mit deren Umsetzung schon begonnen worden ist. Genannt wird beispielsweise das Instrument der Psychosozialen bzw. Sozialpädagogischen Prozessbegleitung insbesondere für traumatisierte Kinder und Jugendliche, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind. Ich sehe in diesem Bereich ein großes Potenzial, um traumatisierte Zeuginnen und Zeugen „sicher“ durch das Verfahren zu bringen und ihre sekundäre Viktimisierung zu vermeiden. Wichtig ist darüber hinaus auch der weitere Ausbau des Fort- und Weiterbildungsangebots für die in den Beratungsstellen tätigen Fachkräfte.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich wünsche Ihnen eine informative und spannende Veranstaltung mit vielen neuen interdisziplinären Erkenntnissen und Kontakten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Therapie für Opfer von Straftaten: Wo die Not am größten, ist die Hilfe am fernsten – Die Kriminalpolizei

Der Originalbeitrag ist erschienen im Juni 2011 in „Die Kriminalpolizei“, der Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei.

Therapie für die Opfer von Straftaten gibt es nicht. Es gibt nur Therapien für Kranke. Patientinnen und Patienten suchen eine Therapie, weil sie unter etwas leiden. Opfer einer Straftat geworden zu sein, kann auch psychische Störungen hervorrufen. Diese sind es, die die TherapeutInnen im Blick haben – dabei ist Recht nur im Sinne subjektiven Rechtsimpfindens von Bedeutung. Vielen TherapeutInnen kommt der Gedanke nach einer Straftat die Polizei einzuschalten, gar nicht oder viel zu spät. Juristische Kenntnisse, beispielsweise des OEGs, fehlen häufig.


Was ist ein Trauma?

Als Trauma wird ein Ereignis definiert, das eine außergewöhnliche Bedrohung darstellt, katastrophenartige Ausmaße hat und bei „fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde„. Straftaten können eine Traumatisierung bewirken – jedoch nicht jede Traumatisierung ist zwingend durch eine Straftat verursacht.
Als typische Folgeerscheinungen nach einem traumatischen Ereignis ist
1. unwillkürliches Wiedererleben
2. eine daraus resultierende Vermeidungshaltung,
3. eine andauernde Übererregbarkeit zu beobachten.
(vgl. Bild 1 = Traumabild mit der aufgeführten Symptomatik)

Das intrusive Wiedererleben ist gekennzeichnet durch Erinnerungen, die sich dem Gedächtnis aufdrängen und willkürlich nicht steuerbar sind. Diese Erinnerungen können in Form von Gedanken und Bildern auftauchen, durch Geräusche oder Gerüche ausgelöst werden oder auch als körperliches Wiedererleben vollkommen unvermutet und erschreckend den Organismus überfluten. Unter dem Wiedererleben in Form von Flashbacks versteht man ein Gefühl, als ob man „wie im falschen Film„ sei, als ob das Erlebte gerade eben jetzt sich wieder ereignete. Albträume sind eine weitere Variante des unwillkürlichen und nicht steuerbaraen Wiedererlebens.
Der zweite Symptomkomplex, bestehend aus Vermeiden und emotionalem Abstumpfen, ist gekennzeichnet durch ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten in Bezug auf den Ort des Geschehens, sowie Situationen oder Gedanken, die an das traumatische Ereignis erinnern könnten.


Oft ist es den Betroffenen unmöglich, sich an zentrale Momente des Traumas detailliert zu erinnern; andererseits sind Klagen über nachlassende Gedächtnisfunktionen typisch. Häufig kommt es zu einem generellen Interessenverlust und einem Gefühl der Entfremdung. Es ist, als ob man zu dieser Welt nicht mehr gehören könne, die so schreckliche Dinge zulässt.
Die unverarbeiteten traumatischen Erlebnisse führen zu einer erhöhten Anspannung, die medizinisch Hypervigilanz genannt wird. Es ist als ob der Körper den Stress der traumatischen Situation nicht loswerden könnte. Dieser Zustand einer überhöhten Wachsamkeit soll gleichsam dafür sorgen, der stets lauernden Gefahr adäquat zu begegnen. Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten sind eine Folge der überhöhten Wachheit; Reizbarkeit und Wutausbrüche sind sichtbarer Ausdruck der andauernden Übererregbarkeit.
Etwa ein Drittel der Betroffenen bildet in Folge eines traumatischen Erlebnisses eine Traumafolgestörung (PTSD) aus. Von einer PTSD spricht man frühestens sechs Wochen nach dem Ereignis. Bei zwei Dritteln der Traumatisierten klingt in dieser Zeit die Symptomatik wieder ab; statistisch gesehen werden sie keine Therapie brauchen.

Behandlungsmöglichkeiten

Für die Therapiebedingungen sind zwei Fragen relevant: die Art der Kostenübernahme und die Art der Therapie. Für die Kostenübernahme ist zunächst die gesetzliche oder private Krankenversicherung zuständig. Bei Berufsunfällen sind Berufsgenossenschaften oder Unfallkassen Leistungsträger. In einigen Fällen übernehmen Hilfsverbände die Behandlungskosten, möglich ist darüber hinaus eine privat finanzierte Therapie.
Die Art der Therapie, die von den jeweiligen Kostenträgern übernommen wird, richtet sich allerdings nicht immer nach den individuellen Bedürfnissen: Die klassische Psychotherapie, die nach den Psychotherapierichtlinien erfolgt, umfasst genau genommen keine Traumatherapie. Diese wäre aber zur raschen und gezielten Behandlung einer Traumafolgestörung hilftreicher. Die klassischen Therapieverfahren wie Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch orientierte Therapie oder Analyse, entsprechen meist nicht dem neuesten traumatologischen Forschungsstand und den therapeutischen Möglichkeiten einer modernen traumazentrierten Therapie.
Psychotherapie muss beantragt werden. Diese Anträge können auch abgelehnt werden. Da „Traumatherapie„ – insbesondere EMDR – keine Kassenleistung ist, muss sie eigentlich abgelehnt werden.
Traumatherapie als solche ist nicht der Aufarbeitung neurotischer Fehlentwicklungen verpflichtet, sie konzentriert sich vielmehr auf das Beheben psychischer Traumafolgen. Es geht also nicht darum, ob der Patient an einem unbewusstem Konflikt leidet, sondern NUR um die psychische Belastung durch die Straftat.
Der erste Schritt ist die Psychoedukation, das heißt, den Betroffen wird Aufklärung angeboten über die Folgen traumatischer Geschehnisse und deren Verarbeitung im Gehirn. Während eines traumatischen Ereignisses ist der Organismus in der Regel überflutet von Stresshormonen, das bedeutet, dass die normale Gedächtnisspeicherung und -zuordnung nicht möglich ist. Die allen bekannte Erfahrung angesichts solcher Schrecken „sprachlos zu sein„ spiegelt sich wider in den neurophysiologischen Befunden, die inzwischen auch medizinisch nachweisbar sind. Die sprachverarbeitenden Zentren sind während des traumatischen Geschehens minderdurchblutet. Die Überleitung traumatischer Erinnerungen in das Großhirn ist blockiert – das Großhirn ist gleichsam „lahm gelegt„. Geschehnisse, die man „im Kopf nicht aushält„, werden nicht weitergeleitet; sie bleiben als fragmentarische Erinnerung in der Amygdala fixiert.
Das Verstehen der neuronalen Zusammenhänge und der sich daraus ergebenden Symptomatik hilft Opfern von Gewalt- oder Straftaten sich und ihr Befinden besser zu verstehen.
Die Vermittlung distanzierender Übungen ist meistens der zweite Schritt der Traumatherapie.
Über imaginative Techniken gelingt es den Betroffenen, sich von den traumatischen Inhalten zu distanzieren und allmählich wieder Kontrolle über das eigene Denken zu erlangen.
Zur Traumakonfrontation, d.h. zur Bearbeitung der eigentlich traumatischen Situation, werden unterschiedliche Methoden und Techniken verwandt. EMDR hat inzwischen die Anerkennung durch den wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie als besonders wirksame Methode der Traumakonfrontation und der Behandlung einer PTSD erlangt.
Den Abschluss der Therapie stellt die Traumaintegration dar. Es gilt, mit den PatientInnen gemeinsam eine Bilanz zu ziehen. Häufig fällt diese sehr positiv aus, denn alle Fähigkeiten, die es zu erwerben galt, um die traumatische Situation zu bewältigen, sind hernach dauerhaft verfügbar und stellen in der Regel einen wirklichen Zugewinn für die Betroffenen dar.
Anhand der folgenden prototypischen Fälle soll versucht werden, die verschiedenen Traumatisierungen und ihre Behandlungsmöglichkeiten nachvollziehbar zu machen.
Die Traumatisierung bzw. das Ausmaß der Traumafolgestörung (PTSD) ist abhängig von

  • der Intention der Handlung
  • der Häufigkeit, d.h. einer Einmal- oder sequenziellen Traumatisierung
  • der Dauer der Schädigung
  • dem zeitlichen Abstand zwischen Trauma und Behandlung.

Die Fallbeispiele im Einzelnen

Die Beispiele wurden gewählt exemplarisch aus einer mittleren Kleinstadt: „Huhnstätten„.
Huhnstätten verfügt über alles, was relevant ist: Bank, Post, Polizei, Sportverein – und Übeltäter.


Herr Erwin E. arbeitet als Bankangestellter an der Kasse. An einem Freitagmittag wird er von einem maskierter Bankräuber mit dem Revolver bedroht. Mit der Waffe an der Schläfe wird er genötigt, das verfügbare Bargeld herauszugeben.
Herr Erpel wurde zufällig zum Opfer dieser Straftat, „zur falschen Zeit, am falschen Ort„, wie er später formulieren sollte. Er wird akut bedroht; es handelt sich um eine einmalige Tat. Diese ist als Straftat leicht zu erkennen, als Täter ist „der Bankräuber„ zwar anonym, jedoch als Übeltäter benennbar. Vermutlich wird Herr Erpel an einer akuten Belastungsstörung leiden, d.h. für einige Tage bis Wochen wird er dem Wiedererleben und den unwillkürlichen Erinnerungen ausgesetzt sein. Die Berufsgenossenschaft ist zuständig für Arbeitsunfälle. Eine traumaspezifische Sofort-Therapie zu Lasten der BG hat eine sehr gute Prognose. Statistisch betrachtet sollte Herr Erpel wenig später wieder in der Lage sein, belastungsfrei am Bankschalter zu arbeiten.

Anders verhält es sich bei Rosalie I., der Bankiersgattin. Nach über 30 Jahren Ehe hatte ihr Mann beschlossen, dass es in diesem Leben noch etwas anderes geben müsse, als Alltag und Routine. Er plante einen wirklichen Neuanfang mit einer deutlichen jüngeren Partnerin und wollte sich – unter Mitnahme seines gesamten Vermögens – von allen Altlasten befreien. Als Rosalie Immerreich sich diesem Ansinnen widersetzte, wurde sie zunächst gedrängt und genötigt, dann bedroht und schließlich unter Anwendung körperlicher Gewalt brutal gezwungen, eine äußerst unvorteilhafte Trennungsvereinbarung zu unterzeichnen.
Sie wurde nicht zufällig Opfer dieser Straftat, sie galt ihr persönlich. Das beschämende Gefühl, sich so sehr im Ehemann getäuscht zu haben, erschwert die Bewältigung. Eine traumaspezifische Sofort-Therapie kann helfen, die psychischen Folgen der gewalttätigen Erpressung zu überwinden. Vermutlich wird es längere Zeit in Anspruch nehmen, bis Frau Immerreich in der Lage sein wird, das Scheitern ihrer persönlichen Lebensplanung zu verarbeiten und akzeptieren zu können, dass ihr Partner sie nicht nur betrogen, sondern auch gewaltsam verletzt hat.

Günther G. ist Polizist. Vor vielen Jahren war er bei einer Mai-Demonstration in Berlin von seinen Kollegen getrennt und in eine Sackgasse abgedrängt worden. Dort wurde er von gewaltbereiten Demonstranten attackiert. Zufällig war er in diese Situation geraten – für die Demonstranten ein beliebiges Opfer ihrer wütenden Angriffslust.
Günther Gutmensch hat eigentlich nie über dieses Erlebnis gesprochen. Es war mit seinem Selbstbild als Polizist nicht vereinbar, zuzugeben, dass er seither Ängste entwickelt hatte, dass er nachts nicht mehr gut schlafen konnte und zunehmend unter somatischen Störungen litt. Lange Zeit wies er den Gedanken, er könne depressiv sein, von sich. Ein Vorfall, dessen körperliche Folgen längst ausgeheilt sind, kann ja wohl keine so gravierenden langandauernden psychischen Folgen nach sich ziehen. Die Hemmschwelle, sich selbst als psychotherapiebedürftig zu begreifen, ist enorm hoch. Erst 20 Jahre später begibt er sich in Behandlung, nachdem er aufgrund körperlicher Erschöpfungszustände lange arbeitsunfähig erkrankt war.Die Therapie wird sich über einen langen Zeitraum erstrecken. Traumaspezifische Ansätze werden die Bewältigung der Ohnmachtserfahrung durch den Angriff wütender Demonstranten ermöglichen. Andererseits wird eine tiefenpsychologisch orientierte Therapie auch eigene biographische Aspekte aufgreifen und berücksichtigen müssen. Vermutlich ist es ein längerer Prozess, bis es Herrn Gutmensch gelingen kann, neben der beruflich notwendigen Haltung: „Ich stehe meinen Mann„ auch Aspekte der Hilfsbedürftigkeit zulassen zu können.
Der Behandlungserfolg wird voraussichtlich auch davon abhängig sein, ob die Dienststelle die bestehenden Beschwerden als Folgen eines Dienstunfalles anerkennen kann, was fraglos zu einer Entlastung von Herrn Gutmensch führen würde.

Wilhelmine S. ging dienstags immer zum Training. Sie liebte ihren Sport und genoss die aufmerksame Förderung durch ihren Sporttrainer. Sie versuchte darüber hinwegzusehen, dass er sie immer wieder gleichsam unabsichtlich am Oberschenkel oder am Busen berührte, sie tröstete sich damit „so hat er es sicher nicht gemeint„. Was für ein Trugschluss! Er hatte es durchaus so gemeint, wie sie voller Entsetzen feststellen musste, als er sie eines Abends nach Trainingsende in der Umkleidekabine vergewaltigte. Wilhelmine Sorglos schämte sich zu Tode. Kein Gedanke an Anzeige oder Anklage. Sie ging nach Hause und duschte und duschte und duschte…
In der Folge entwickelte sie eine Angst- und Zwangsstörung. Sie konnte abends im Dunkeln nicht mehr alleine vor die Tür gehen; ausgeklügelte Waschrituale waren nötig, bis sie sich überhaupt morgens zur Arbeit traute. Eine Zunahme körperlicher Beschwerden und eine chronische Depression gesellten sich im Laufe der Zeit hinzu.
Wilhelmine Sorglos verbitterte zunehmend, wurde misstrauisch und übervorsichtig im Kontakt zu ihren Mitmenschen. Erst Jahre später entschloss sie sich zu einer Psychotherapie. Es sollte jedoch auch hier noch über ein Jahr dauern, ehe sie es über sich brachte, von der Vergewaltigung zu berichten. Nach vielen therapeutischen Sitzungen wurde die Frage einer Anzeige vor Ablauf der Verjährungsfrist aufgegriffen. Doch Frau Sorglos fürchtet die erneute Bloßstellung.

Alfred F. leitet die Postfiliale in Huhnstätten. Zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit wird er in dieser Filiale Opfer eines bewaffneten Überfalles. Eigentlich ist er ganz sicher, dass es ihn nur zufällig erwischt hat. Dann aber mehren sich die quälenden Zweifel: „Was ist, wenn die Täter es wirklich auf mich abgesehen hätten?„ Mit jedem gutgemeinten Scherz: „Du steckst doch wohl nicht mit den Räubern unter einer Decke?„ mehren sich seine Verzweiflung und Unsicherheit. Zwar ist die Berufsgenossenschaft zuständig für die Einleitung einer zeitnahen traumaspezifischen Sofort-Therapie, jedoch wird diese konterkariert, wenn der Arbeitgeber sich nicht hinter Herrn Fleißig stellt. Wenn ihm in solch einer Situation Zaudern, Zögern, Unfähigkeit oder sogar unkorrektes Verhalten vorgeworfen wird, dann vergrößert sich seine Angst und Unsicherheit im Hinblick auf die eigene Berufstauglichkeit. Die grundsätzlich erfolgversprechende Traumatherapie kann hier nur in dem Maße weiterhelfen, wie auch die Umwelt stützend reagiert. Sollte es infolge der wiederholten Überfälle zu einer Arbeitsplatzveränderung kommen, die Alfred Fleißig als degradierend und demütigend empfindet, so kann die Posttraumatische Belastungsstörung durch eine sogenannte Posttraumatische Verbitterungsstörung deutlich verschlimmert werden.

Hiko H. fuhr gemeinsam mit anderen Jugendlichen zu einem Ferienlager. Dort wurde er Opfer sexueller Gewalt. Hiko Holland ist ein etwas dickliches, unsicheres Kind. Schon aus dem Schulalltag kennt er Hänseleien und das Gefühl des Ausgegrenztseins. Er lastete es sich und seinem persönlichen Versagen an, dass er zum Opfer der gewalttätigen sexuellen Übergriffe der älteren Jugendlichen wurde. Die Qualen wiederholten sich. Helge Holland hatte Angst, sich den Betreuern anzuvertrauen, da man ihm gesagt hatte: „Sie glauben Dir doch nicht!“.
Wenn Hiko Holland es nach dem Ende des Ferienaufenthaltes schafft, sich den eigenen Eltern anzuvertrauen und diese mit Verständnis reagieren, so wird es gewiss möglich sein, die Straftäter zur Verantwortung zu ziehen und eine angemessene therapeutische Hilfe für Hiko zu suchen. Allerdings ist traumaspezifische Behandlung für Kinder und Jugendliche noch deutlich schwerer zu finden als für Erwachsene. Da Traumatherapie eine intensive, kostspielige und zeitaufwendige Zusatzqualifikation für TherapeutInnen darstellt und Kinder- und Jugendtherapieplätze ohnehin fehlen, ist die Wahrscheinlichkeit, einen entsprechenden Therapieplatz zu finden, gering. Wenn Hiko Holland es aber nicht schafft, sich zeitnah einer liebevollen Bezugsperson anzuvertrauen und das geschändete Kind verzweifelt versucht, die Schande für sich zu behalten, statt sie den Tätern zuzuweisen, dürfte es ihm langfristig ähnlich ergehen, wie Alva Anonyma.

Wie viele andere Frauen auch wurde Alva A. während des Krieges Opfer zahlreicher Vergewaltigungen durch Soldaten. Wieder und wieder wurde sie vergewaltigt, nichts hatte oder hätte sie tun können, um diesem Schicksal zu entgehen. Zur falschen Zeit am falschen Ort, das falsche Geschlecht, die falsche Ethnie. Alva Anonyma lebt wie viele andere lange Jahre mit diesem Grauen. Sie versucht es zu verdrängen, zu verleugnen, zu vergessen. Das gelang zunächst recht gut, Überleben war angesagt, Aufbau, Arbeit, Alltag. Doch mit zunehmendem Alter und dem Nachlassen auch der psychischen Abwehrkräfte kommen die belastenden Erinnerungen näher und näher. Sie leidet zunehmend unter Albträumen, unter diffusen Ängsten, unter Schmerzen und einer chronischen Depression. Sie selbst vermag ihre Beschwerden kaum in direkten Zusammenhang mit den Kriegserlebnissen zu bringen.
Eigentlich will sie ihr Leben beenden. Der Beginn einer Therapie ist lediglich ein letzter Verzweiflungsschritt. In langer therapeutischer Begleitung lernt sie ihre Depression, ihre Ängste, ihr beeinträchtigtes Lebensgefühl als Folge der sich sexuellen Gewalt zu begreifen. Indem sie erkennt, was ihr angetan wurde und anerkennt, welche Belastung es wirklich dargestellt hat, kann sie zunehmend Vergangenes als vergangen akzeptieren. Damit wird ihr Blick frei für die Gegenwart und allmählich auch für die Zukunft. Die Integration der erlebten Gewalt in die eigene Biographie macht es ihr möglich, ihr heutiges Leben dankbar und mit zunehmender Neugier auf das, was sie noch erleben könnte, zu gestalten.

Annchen V. ist Opfer ritualisierter Gewalt. Sie wurde als kleines Kind sadistisch gefoltert; sie ist gezielt über Jahre hinweg gequält worden, misshandelt, missbraucht, verraten und verkauft. Annchen Vielfalt kommt nicht zur Therapie, weil sie sie vielfältig ist. Sie kommt nicht einmal zur Therapie, weil sie gefoltert und vergewaltigt wurde. Sie kommt am ehesten zur Therapie, weil sie sich selbst verletzt, verzweifelt, depressiv und suizidal ist. Die Diagnose einer Dissoziativen Identitätsstörung wird oft erst Jahre nach Beginn der ersten Therapieversuche gestellt.

Die Diagnose „Dissoziative Identitätsstörung„ impliziert, dass bereits im frühen Kleinkind-oder Säuglingsalter folterähnliche Misshandlungen erfolgt sind. Unaushaltbare Qualen, für die auch danach weder Trost noch Hilfe zur Verfügung stehen, führen dazu, dass der Organismus sich vom äußeren Geschehen distanzieren muss. Es kommt zur dissoziativen Abspaltung. Diese wird neurophysiologisch durch Hormon- und Endorphinausschüttung mitbedingt. Die Erinnerung an Geschehnisse, die mit dem Überleben nicht vereinbar sind, wird abgespalten, um einen anscheinend normalen Alltag zu ermöglichen. Mit jeder Wiederholung der Gewalt, der sexueller Ausbeutung oder Folter, werden die dissoziativen Fähigkeiten gestärkt. Diese Abspaltung erlaubt ein: „Das geschieht gar nicht mir„ oder ein „ich bin gar nicht hier, sondern woanders„. Das erste ist die Depersonalisation, das zweite entspricht einer Derealisation.
Wenn Annchen Vielfalt in einem Umfeld heranwächst, wo sie immer wieder Opfer ritualisierter Misshandlung oder pädosexueller Ausbeutung wird, lernt sie die Normalität des Ungeheuerlichen in ihr vielfältiges System zu integrieren. Sie begreift sehr früh, dass es eine Welt gibt, in der die normalen Gesetze gelten und eine andere, in der diese Gesetze – für sie zumindest – keine Gültigkeit haben. In der „Alltagswelt„ bewegt sie sich mit Hilfe von ein, zwei oder auch mehreren anscheinend normalen Innenpersönlichkeiten, die den Alltag regeln. Andere Innenpersonen sind zuständig für Emotionen, das Aushalten von Schmerzen, für Verteidigung, Kampf, Flucht oder Unterwerfung. Im Alltag bemüht sich Annchen Vielfalt möglichst nicht aufzufallen. „Zeitlücken„ versucht sie durch geschicktes Nachfragen oder mühsames Rekonstruieren zu füllen. Oft ist es für die Alltagsperson nicht erinnerlich, wenn eine andere Innenperson plötzlich den Außenkontakt und damit die Führung über das System übernommen hat. Das Hören der inneren Stimmen, die innere Diskussion ist außerordentlich beängstigend, da Stimmenhören gleichgesetzt wird mit psychotisch oder verrücktsein. Die Angst, verrückt zu werden, ist ja umso nachvollziehbarer, als Annchen Vielfalt immer wieder von verrückten Phänomen überrascht wird: Sie findet in ihrem Kalender Notizen in einer fremden Handschrift, Einkäufe in ihrer Küche, die sie nicht besorgt hat oder sie entdeckt Kleidungsstücke in ihrem Kleiderschrank, die weder ihrem Geschmack entsprechen noch kann sie sich an deren Kauf erinnern.
Auch auf körperlicher Ebene gibt es unerklärbare Phänomene, wie Schmerzen, die ohne organmedizinische Erklärung blieben oder im Gegenteil, die Fähigkeit Schmerzen auszuhalten, die eigentlich unaushaltbar sind. Allergische Erscheinungen, die aus dem Nichts auftauchen und auch rasch wieder verschwinden, während des Bestehens jedoch lebensbedrohlich sind oder Visusveränderungen, die weder für die Betroffene noch für die Ärzte nachvollziehbar sind. Annchen Vielfalt muss sich in einer äußeren Welt zurechtfinden, die eigentlich nicht die ihre ist und muss im Inneren ein oft sehr chaotisches System, das im Einzelnen vielleicht noch gar nicht bekannt ist, funktionsfähig erhalten. Als Opfer ritualisierter Gewalt lebt sie in zwei parallelen Welten. Der Alltagswelt für normale Bürger und der anderen Welt, die von menschenverachtenden Gesetzen geprägt ist, die Annchen jedoch als richtig empfinden muss. In dieser Welt ist Gut und Böse, Schuld und Unschuld vollkommen vertauscht, sind die Wertvorstellungen in Wahrheit „verrückt„. Unabdingbare Loyalität zum Kult wird gefordert und durch drakonische Maßnahmen auch gewährleistet, Verschwiegenheit ist oberstes Gebot.
Dies alles muss berücksichtigt werden, wenn man Annchen Vielfalt therapeutisch erfolgreich behandeln möchte. Wenn das Vorliegen einer Dissoziativen Identitätsstörung therapeutisch miteinbezogen wird, dann überschreitet das in Regel die Grenzen der gültigen Psychotherapierichtlinien. Weder die Verhaltenstherapie noch die tiefenpsychologisch orientierte Therapie noch die Analyse haben klare Antworten darauf, wie zu verfahren sei, wenn in einer Person fünf bis zwanzig oder mehr verschiedene Innenpersönlichkeiten auftauchen und gegebenenfalls auch das Handeln im Äußeren bestimmen wollen.
Eine traumatherapeutische Ausrichtung der Therapie unter Berücksichtigung neuerer Erkenntnisse der „Strukturellen Dissoziation„ erlaubt eine gute Prognose. Manche „Systeme„ fusionieren, während andere eine gute Innenkommunikation und damit auch eine funktionsfähig Außendarstellung erreichen können.
Die Therapie wird häufig dadurch erschwert, dass die Bedrohung und oft auch die Gewalt noch andauern. Eine Umfrage in Rheinland-Pfalz hat ergeben, dass 57% der Opfer ritualisierter Gewalt, die sich in Therapie befinden, noch Täterkontakt haben.
Mit ihrer Dissoziativen Identitätsstörung ist Annchen Vielfalt nur eine von vielen; die Häufigkeit wird mit bis zu 0,5% der Bevölkerung beziffert. Das entspricht auf ganz Deutschland bezogen etwa der Einwohnerzahl Bochums.

Therapie von Opfern von Straftaten oder Traumatisierung

Psychotherapie, insbesondere traumaspezifische Therapie, ist umso schneller und hilfreicher, je früher sie einsetzt, je geringer die körperlichen Schäden beim Gewaltopfer und je klarer das Bewusstsein ist, Unrecht erlitten zu haben. Darüber hinaus ist sie umso wirkungsvoller, je traumaspezifischer sie ausgerichtet ist. Therapie gestaltet sich umso schwieriger, je häufiger und länger die Traumatisierung andauerte, je jünger die Betroffenen einer Gewalttat sind und je sadistischer und gezielter die Gewalttat erfolgte. Das bedeutet, dass da, wo Tat und Täter leicht identifizierbar sind, Therapie vergleichsweise schnell wirksam wird. Wo Tat, Täter, Tathergang und Tatmotive unklar, verschwommen und in großer zeitlicher Distanz sind, wird auch die Therapie deutlich schwieriger und langwieriger werden.
Erfolgreiche Therapie verändert die neuronale Verknüpfung im Gehirn, sodass es zu einer Umbewertung des Geschehenen kommt. Dies hat Vorteile, wenn Gewaltopfer eine gute Distanz aufbauen; es kann sich aber auch als nachteilig erweisen, wenn sich im Laufe der Therapie die Erinnerung mit der Bewältigung des Geschehenen verändert. Traumaexpositionsverfahren, wie z.B. das EMDR, können zwar nicht die Erinnerung an das Geschehene auslöschen, jedoch durchaus Einzelheiten des Tatherganges oder deren Bewertung verändern. Die Frage, ob Therapie oder Anzeige und juristische Verfolgung Vorrang haben soll, muss im Einzelfall erwogen werden. Für Menschen, die unter einer Dissoziativen Identitätsstörung leiden, wird eine juristische Aufarbeitung der Straftaten ohne vorausgegangene Therapie kaum möglich sein.
Generell gilt für Opfer von Gewalt, dass die Anerkennung der Beschädigung ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Bewältigung ist, mit dem Ziel, dass Opfer sich wieder als selbstbestimmte, autarke Menschen mit unverletzbaren Menschenrechten erleben können.

Wichtig für die ermittelnden Beamten

Auch wenn keineswegs alle Opfer von Gewalt- oder Straftaten potentielle PatientInnen sind, so könnte sich doch eine Liste der in Wohnort Nähe erreichbaren TraumatherapeutInnen als hilfreich erweisen.
Sowohl über die Abfrage der EMDRIA-Liste als auch über die DeGPT findet man gut ausgebildete Trauma-Therapeuten.
EMDRIA, die deutsche Organisation zertifizierter EMDR-Therapeuten hat ihr Mitgliederverzeichnis nach Postleitzahlen geordnet.
Die DeGPT ist die deutschspachige Gesellschaft für Psychotraumatologie. Durch diese Gesellschaft sind die Ausbildungsinstitute, die in Deutschland eine curriculare Fortbildung für ärztliche und psychologische Psychotherapeuten anbieten, zertifiziert worden. Gegenwärtig gibt es ca zwanzig solcher anerkannter Institute in Deutschland., die mehr als 3000 Fachkräfte ausgebildet haben. Außerdem verfügen die Berufsgenossenschaften über Listen traumaspezifisch ausgebildeter TherapeuthInnen.
Darüber hinaus sind natürlich Notfallseelsorger und Opferberatungsstellen als mögliche Ansprechpartner vor Ort zu nennen, falls akut traumatisierte Betroffene rasche Unterstützung benötigen.
Die Bildung von Trauma-Netzwerken, das bedeutet Zusammenschluß aller Institutionen oder Personen, die mit traumatisierten Menschen zu tun haben ist ein lohnendes Ziel, das in verschiedenen Bundesländern bereits verfolgt wird. Auch bieten Trauma-Ambulanzen, wie sie in NRW bereits installiert sind, eine gute Möglichkeit, traumatisierten Menschen schnell eine gezielte Hilfe zu vermitteln